5. Juni 2017

RTFM – Die Grenzen des Zwitscherns

Erleben wir gerade eine fundamentale Veränderung? Ich denke: Ja. Die Entwicklung von nutzerfreundlichen Grafiken und Schaubildern in der Entwicklungszusammenarbeit wird zunehmend als Stärke bzw. „Skill“ wahrgenommen. Dabei kommt es auf eine Mischung aus reiner Software-Kenntnis und konzeptionellem Denken an. Doch das Konzeptionelle hat seine visuellen Grenzen.

Ich versuche in meiner Arbeit unermüdlich, komplizierte Inhalte zum Beispiel von „Green Finance“-Instrumenten oder der lebenswerten Stadtentwicklung grafisch und nur mit wenigen Kernbegriffen darzustellen. Aber nicht jeder Gedanke kann inhaltlich zufriedenstellend oder effektiv in ein Bild gefasst werden kann. Das hat seinen berechtigten Grund darin, dass die Komplexitäten des 21. Jahrhunderts tatsächlich über die einzelne PowerPoint-Folie hinausgehen.

Dennoch würde ich festhalten, dass Veranschaulichungen nützlich sind, um Inhalte zu kommunizieren. Gleichzeitig tun sich neue Formate, Stile und Plattformen der Kommunikation auf. Entsprechend gibt es weit mehr als die klassische Publikation (Seiten voller Schrift). Es fällt multilateralen Organisationen und anderen Institutionen zwar immer noch unglaublich schwer, alte Formen durch neue zu ergänzen oder zu ersetzen; aber es tut sich was (siehe bspw. hier oder hier).

Die fundamentale Veränderung ist allerdings negativer Natur: Der eigentliche Grund, warum ich überhaupt oft an Veranschaulichungen arbeite, ist, dass Texte nicht mehr gelesen werden. Dabei spreche ich nicht von sehr langen Texten – dieses Phänomen wird bereits seit längerem diskutiert. Ich beziehe mich stattdessen auf Texte, die nur zwischen 5 und 25 Seiten kurz sind. Diese Texte werden nicht nur von den großen Entscheidungsträgern nicht gelesen, sondern sogar vom niedrigen Management oder technischen MitarbeiterInnen. Zum Teil nehme ich diese Veränderung der Lesebereitschaft oder Leseaufmerksamkeit sogar bei kürzesten Emails wahr.

Die Gründe hierfür kann ich nur bedingt ausmachen. Abgesehen von der eigenen möglichen Unwichtigkeit für den Gegenüber oder das konkrete Projekt vermute ich, dass sich kognitive Fähigkeiten wohl im Zuge von Social Media und Dauerbeschallung durch multiple Kanäle verändert haben. Die alltägliche Komplexität überfordert viele Menschen zunehmend. Auch fehlt es an Lehrgängen und Workshops, um MitarbeiterInnen für diese neuen kognitiven Herausforderungen und die dynamische, mediale Umgebung fit zu machen.

Aus dieser fundamentalen Veränderung resultieren schwerwiegende Folgen. Denn bestimmte Aspekte können effektiv und sinnvoll nur in mehreren Worten beschrieben werden. Es bedarf immer noch Text. Werden solche Inhalte aber nicht mehr gelesen, so erhalten sie zum einen weniger Aufmerksamkeit und werden zum anderen auch weniger/schlechter verstanden. Die Folge sind Fehlwahrnehmungen und Fehlentscheidungen.

Organisationen, welche die Expertise und Wächterfunktion in bestimmten Bereichen einnehmen (sollen), werden dabei ihrer Rolle nicht gerecht. Trotz umfassend verfügbarer Informationen und Inputs sowie zahlreicher Ressourcen (außer Zeit?) erscheint die inhaltliche Tiefe und Qualität erschütternd schwach. Setzt sich diese – zumindest aus meiner persönlichen Sicht – fundamentale Veränderung fort, so leiden unser kollektives Denken und Handeln.

Auch bedarf es eines besseren Links zwischen Forschung, „Policy“ und Praxis. Von Praktizierenden im tatkräftigsten Sinne kann man selten erwarten, dass sie sich 100 Seiten zum Fachthema X zu Gemüte führen (wobei sie das – unterschätzt von anderen – eventuell sogar tun). Die MittlerInnen zwischen aktuellem Wissensstand und täglicher Implementierung – die meisten ExpertInnen in der Entwicklungszusammenarbeit also (ebenso wie des öffentlichen Dienstes oder anderer Institutionen) – sind aber in der Pflicht, bestmöglich informiert zu bleiben und sich mit Verve auch mit komplizierten Sachverhalten ernsthaft und umfassend auseinanderzusetzen.

Wie oben erwähnt: Neue Kommunikationsformen/-formate sind extrem begrüßenswert und leisten einen wichtigen, hilfreichen Beitrag. Gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass diese scheinbar umfassende Leseunfähigkeit/-willigkeit nicht weiter zunimmt. Als Gründe dafür können nicht ständig Zeit beziehungsweise Stress ins Feld geführt werden. Nüchtern betrachtet haben die meisten Dinge in der Entwicklungszusammenarbeit keine tatsächlichen, natürlichen „Deadlines“, die schlampiges, uninformiertes Arbeiten entschuldigen würden. Und letztlich leben Entwicklungsprojekte von ihrer Qualität, gut informiert Wirkungen zu erzielen. Das schafft das wenige Vertrauen, das besser nicht leichtfertig verspielt werden sollte.