19. Mai 2012

Unter Strom

Wollen Sie wirklich wieder Praktikantin sein? Diese Frage wurde mir vor Beginn des Mercatorkollegs von verschiedenen Seiten gestellt. Und warum gerade Tunesien, da passiert doch nach der Revolution im Energiebereich nicht viel…? Beide Fragen kann man legitimerweise stellen und sie verwundern nicht, wenn man aussteigt, um eine noch nicht klar definierbare Tätigkeit an weitgehend unbekannten Orten auszuüben. Und auch wenn eine Entscheidung zu Veränderung immer mit Risiken verbunden ist und viel Energie in das Jahr fließt, lassen sich viele neue Energiequellen finden, die sich in ein neues Maß an Produktivität umwandeln lassen. Auch die Annahme, der tunesische Energiesektor befinde sich im Stillstand, hat sich bislang nicht bewahrheitet.

Dies ist ein Appell, nicht zur Energieverschwendung, sondern zur Nutzung neuer Energiequellen und zum effizienten Einsatz der eigenen Energie.

Aufgeladen

Die Revolution hat in Tunesien vieles verändert. Das ganze Land ist unter Strom. Dass die Stimmung in Tunesien aufgeladen ist, zeigt sich schon auf der Fahrt zur Arbeit, die angesichts des Wirrwarrs auf der Strasse eine echte Herausforderung ist. Da muss man alten Frauen ausweichen, die gemütlich eine fünfspurige Autobahn überqueren und ein paar Beulen in Kauf nehmen, wenn aus fünf Spuren plötzlich sieben gemacht werden. Ständige Neuigkeiten prägen und beeinflussen zudem meinen Alltag und machen immer wieder deutlich, dass in Tunesien derzeit viel im Fluss ist. Ob es nur die Änderung der Verkehrsführung ist, welche die Fahrtzeit zur Arbeit mal kurz auf die Hälfte reduziert, eine Demonstration, die einen Ausflug zur Medina verhindert, oder die sich bald als fehlerhaft herausstellende Ankündigung, die Übergangsregierung würde bald gestürzt. Ich habe das Gefühl, mich ständig den neuen Entwicklungen anpassen zu müssen. Langweilig wird es jedenfalls nie.

Aufgehellt und düster zugleich

Die Revolution hat überall ihre Spuren hinterlassen. Mohamed, der Taxifahrer meines Vertrauens, erzählt mir, wie er die nachrevolutionäre Zeit empfindet, in positiver und negativer Hinsicht. Endlich Meinungsfreiheit und die Möglichkeit, sich nach dem eigenen Gusto zu verhalten. Im Straßenbild äußert sich dies beispielsweise darin, dass einige der tunesischen Frauen jetzt ein Kopftuch tragen, was unter Ben Ali verboten war, oder in der öffentlichen Kundgabe von Streiks. Die Revolution hat aber auch negative Auswirkungen, die unübersehbar sind, wie z.B. Verzögerungen bei der Ausarbeitung der Verfassung, erhöhte Kriminalität und der wachsende Machtgewinn der Salafisten sowie der Einbruch in der Tourismusbranche, der viele Hotels zu verlassenen Ruinen umgewandelt hat. Nach Mohamed haben sich die Lebensmittelpreise seit der Revolution verdreifacht, was dazu führt, dass die Armut wächst und der Staat immer mehr Preise staatlich festlegt.

Stromsektor im Fluss

Auch der Energiesektor ist seit der Revolution stark in Bewegung und hat sich seitdem eher positiv entwickelt. Der staatliche Monopolist und Stromversorger STEG (Société Tunisienne de l’Electricité et du Gaz) vertritt eine neue Strategie der Transparenz und Offenheit und hat eine eigene Gesellschaft für erneuerbare Energien geschaffen. Die Direktorin der Energiebehörde (l’Agence Nationale pour la Maîtrise de l’Energie) hat angekündigt, ein Gesetz zu erlassen, das privaten Unternehmen ermöglichen soll, Strom aus erneuerbaren Energien zu produzieren und auch an Dritte im In- und Ausland zu verkaufen. Und die tunesische Regierung hat jüngst die Absicht kundgetan, bis 2030 einen Anteil erneuerbarer Energien von 30 Prozent zu erreichen. Weit gefehlt somit die Prognose, im Energiesektor passiere nicht allzu viel.

Elektrisiert

Nicht nur der tunesische Stromsektor bewegt sich, auch ich bin unter Strom und habe durch meine Arbeit bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) eine ganze Skala an Themen im Energiebereich kennengelernt, die meinen Horizont erweitern. So wie die tunesische Revolution die Stimmung im Land und in der Region aufgeheizt hat, haben mich das Land und die Thematik der erneuerbaren Energien in Spannung versetzt und elektrisiert. Dass es den einen richtigen Weg für eine berufliche Entwicklung nicht gibt, dürfte jedem klar sein. Und ob es der richtige individuelle Weg ist, stellt sich ebenfalls meist erst im Nachhinein heraus. Gerade deswegen bedarf es eines kurzen Stromschlags, um eine das Leben jedenfalls kurzfristig ändernde und prägende Entscheidung zu wagen.

Szenario 2013 bis 2030

Kurz- und langfristig hoffe ich, dass ich die in den letzten Monaten empfangene Energie in eine nachhaltige Tätigkeit im Bereich der erneuerbaren Energien umwandeln kann. Eines weiteren Stromschlags für meine persönliche Energiewende bedarf es nicht. Für die Tunesier hoffe ich, dass diese die Energie haben werden, die erforderlichen Reformen nicht nur bis zu den Präsidentschaftswahlen 2013 voranzutreiben, sondern dass diese und künftige Wahlen den Fluss der Entwicklungen insbesondere im Bereich der erneuerbaren Energien neu beflügeln und die Tunesier die Energiewende bis 2030 realisieren werden.

„In schā’a llāh.“