3. September 2017

Wie Crowd Think Tanks die Demokratie neu erfinden

Viele halten es mit Churchill und finden, die Demokratie sei „die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von allen anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind“. Ist dies aber auch im Fall der globalisierten und technologisierten Welt von heute?

Am 30. Oktober 2016 unterzeichneten der Europäische Rat, die Kommission und die kanadische Regierung das Freihandelsabkommen CETA. Im Vorfeld sammelten zivilgesellschaftliche Organisationen in der EU über drei Millionen Unterschriften gegen das Abkommen. Was genau wollen diese drei Millionen Bürger*innen? Inhaltlich können sie sich nicht einbringen. Wahlen, Abstimmungen oder Klagen sind weiterhin die stärksten Instrumente der Teilhabe, erlauben jedoch nur eine Äußerung ex-post und sind weder nuanciert noch konstruktiv. Ein anderes Beispiel findet sich in Großbritannien. Wie sollen 50:50Entscheidungen wie der Brexit interpretiert werden? Was heißt harter oder weicher Brexit und wie kann die Bevölkerung eine Präferenz ausdrücken? Vielleicht hinge die Wahl zum Beispiel vom Verhandlungsresultat ab, das aber vorab nicht bekannt ist.

Die Verlockung ist groß, dieser Komplexität mit rhetorischen Schnellschüssen und Populismus zu begegnen. Obsiegt aber der Populismus als bestes Mittel zur politischen Macht, verliert die Demokratie an Glaubwürdigkeit. Anstatt relevanter Debatten werden plakative Scheingefechte über Schleier, die „Unterwanderung“ der Sozialwerke, oder den „Souveränitätsverlust“ geführt.

Dagegen helfen zwei Dinge. Erstens muss die demokratische Partizipation einfacher werden und über eine Abstimmung oder Wahl hinausgehen und zweitens müssen Informationen besser zugänglich und verständlicher sein. Hier kommt Hilfe von unerwarteter Seite: Die technologische Entwicklung der vergangenen Jahre hat nicht nur zur Entstehung von Filterblasen geführt und damit die Polarisierung befeuert, sie ermöglicht es uns auch, Partizipation neu zu denken.
Erste Experimente gibt es schon: In Estland konnten Bürger*innen 2007 erstmals elektronisch abstimmen. In Irland erarbeiteten 33 gewählte Politiker*innen und 66 ausgeloste Bürger*innen Vorschläge für eine Verfassungsreform. Mit foraus, dem ersten außenpolitischen Crowd Think Tank versuchen wir solche neuen partizipativen Modelle zu entwickeln. 2009 haben wir ein Ideenlabor gegründet, in dem heute über 1000 junge Leute in ehrenamtlicher Arbeit innovative Lösungsansätze für die internationale Politik entwickeln. Mitmachen können alle.

Bildnachweis: Flickr: Deutsche Welle

Die Eintrittshürden sind bewusst niedrig, weil die Debatten so breit wie möglich sein sollen. Interessierte melden sich bei thematischen Arbeitsgruppen und finden über das Netzwerk unserer Denkfabrik Mitautor*innen. Für inhaltliche Analysen, bietet foraus einen strukturierten Review-Prozess, der die Qualität sicherstellt.

Über die vergangenen zwei Jahre organisierte foraus sogenannte „PoliTische“, an denen mehrere hundert Personen in der ganzen Schweiz bei einem Abendessen über die Zukunft der Schweiz als Migrationsland diskutierten. Die Diskussionen wurden digital über ein crowdsourcing tool weitergeführt, wobei alle Schweizer*innen Ideen einbringen und bestehende Ideen bewerten konnten. Entstanden ist daraus das Buch „Neuland“, welches eine Vision des Migrations- und Chancenlands Schweiz im 21. Jahrhundert beschreibt. Die Vision ist, anders als bei etablierten Think Tanks, nicht in den Köpfen ausgewählter Expert*innen entstanden, sondern ist das Produkt unzähliger engagierter Diskussionen.

Moderator Nicola Forster, Präsident des Schweizer Think Tanks foraus, moderiert die außenpolitische Diskussion einer Gruppe von Bürger*innen im Open Situation Room. // Bildnachweis: Flickr: Deutsche Welle
Im Mai 2016 beschloss die Landsgemeinde, die Bürgerversammlung des Kantons Glarus, viele kleine Gemeinden zu drei großen zu fusionieren. // Bildnachweis: Flickr: Deutsche Welle

Das Design des Modells von foraus wurde von der direktdemokratischen Tradition in der Schweiz inspiriert, es hängt aber zum Glück nicht davon ab. In Berlin wurde vor zwei Jahren „Polis180“ nach dem Vorbild von foraus gegründet. Er ist schon jetzt einer der Top 10 der neuen Think Tanks weltweit. In Paris und London sind mit „argo“ und „agora“ dieses Jahr weitere Crowd Think Tanks entstanden – USA, Österreich und weitere Länder sind in Planung. Wir bauen die Infrastruktur für den ersten globalen offenen Think Tank mit der Vision, ein globales Match-Making aufzubauen, das international die besten Köpfe für Lösungsvorschläge und die Kommunikation komplexer Sachverhalte zusammenbringt.
Konkret ist im Frühjahr eine erste internationale Publikation zu Reformideen in Europa, europe.think.again, entstanden. Für die Bundestagswahlen im Herbst ist ein deutsch-schweizerisches Expertenduo zur Kommentierung geplant. Außerdem laufen gerade ein deutsch-französisches Projekt zur europäischen Sicherheitsarchitektur sowie ein europäisches Projekt zur Inklusion von politikfernen Bevölkerungsgruppen an.
Mit diesem globalen Netzwerk von offenen Think Tanks hoffen wir, die Polarisierung der Gesellschaft etwas aufzubrechen und konstruktiv mit breiten Teilen der Bevölkerung an den komplexen Problemen unserer Zeit zu arbeiten. Der Klimawandel, die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz werden kommen und die Demokratie findet auf diese Herausforderungen nur nachhaltige Antworten, wenn sie schneller und partizipativer wird.