20. Juni 2017

Zählen bis zum (Morgen-)Grauen

Ein überfülltes Wahllokal im Norden der armenischen Hauptstadt Jerewan: Lilit Mansurian (Name von der Redaktion geändert) ist Beobachterin von „Yelk“, der wichtigsten (neugegründeten) Oppositionspartei, und macht im Wahllokal lautstark auf einen Mann aufmerksam. Er hatte erneut eine ältere Dame in die Wahlkabine begleitet, war dazu aber nicht berechtigt.

Die Vorsitzende des Wahlvorstandes schritt nur widerwillig ein – die Wahlbeeinflussung offensichtlich. Gegen die vor dem Wahllokal stehende Gruppe von Männern, die den ganzen Tag bereitstanden, um Wähler*innen zu begleiten, unternahm sie trotzdem nichts. Die anwesende Polizei war vielmehr im angenehmen Plausch mit den „Wahlhelfern“ vertieft – obwohl das neue Wahlgesetz die Auflösung einer solchen Gruppe gefordert hätte. Ob der Zustände im Wahllokal fragte mich unsere armenische Dolmetscherin aufgewühlt: „Kannst Du nicht einschreiten?“

Sonntag, 2. April 2017: Ich bin unterwegs als Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Jerewaner Stadtteil Arabkir. In dem dicht bebauten Viertel lebt eine eher höher gebildete und politisch interessierte Bevölkerung, stark umkämpft von Regierung und Opposition, mit unterschiedlichen Ansichten über das Verhältnis zur Europäischen Union (EU). Zwar betrachten viele Armenier*innen ihr Land als integralen Bestandteil Europas, gerade als erstes Land, in dem im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde. Aber die Regierung schreckte im Jahr 2013 auf russischen Druck hin vom Abschluss eines EU-Assoziierungsabkommens zurück.

Im Frühjahr wurde eine abgespeckte Version in Form eines sogenannten vertieften und umfassenden Partnerschaftsabkommens mit der EU unterzeichnet. Die Oppositionspartei Yelk möchte die Zusammenarbeit mit der EU ausbauen; die Republikanische Partei, die führende Partei der bisherigen Koalitionsregierung, hingegen den russlandfreundlichen Kurs fortsetzen. Ein Großteil der armenischen Unternehmen ist inzwischen in russischem Besitz. Der im Jahr 2015 von Moskau forcierte Beitritt in die Eurasische Wirtschaftsunion erbrachte aber keine Impulse für die eigene Wirtschaft. Vielmehr schlagen die aufgrund der Krim- und Ostukrainekrise gegen Russland erlassenen Wirtschaftssanktionen auch im Südkaukasus durch.

Die Menschen sind auf die Rücküberweisungen der vielen in Russland arbeitenden Armenier*innen angewiesen. Steigende Strompreise trieben die Bürger*innen im Jahr zuvor auf die Straßen. Mit 5.000 eigenen in Armenien stationierten Soldaten verfolgt Russland zudem geostrategische Interessen in der Region. Der ungelöste Bergkarabach-Konflikt mit Aserbaidschan blockiert jeden Fortschritt zur Entspannung in der Region.

In dieser Situation waren die Armenier*innen aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Die OSZE entsandte 250 Wahlbeobachter*innen. Ich besuchte gemeinsam mit einer US-Amerikanerin am Wahltag zehn Wahllokale in Arabkir und verfolgte bis 4 Uhr morgens die Auszählung in einem Wahllokal. Das Ergebnis der von uns beobachteten Auszählung bestätigte das vermutete bessere Abschneiden der Opposition in diesem Teil Jerewans. Bei einer landesweiten Wahlbeteiligung von knapp über 60 Prozent konnten die Republikanische Partei 49,15 Prozent und Yelk 7,78 Prozent erzielen; erstere entschied sich inzwischen für die Fortsetzung der vorhergehenden Koalitionsregierung mit der Partei „Armenische Revolutionäre Föderation“.

Stimmenauszählung morgens um 3 Uhr: Das Papier auf dem Boden sind keine Stimmzettel, sondern Papierumschläge. Bild: Sebastian Gräfe

Auch wenn der Wahl- und Auszählungsprozess insgesamt gut organisiert war, zog sich das Auszählen über acht Stunden hin, etwa weil vieles handschriftlich in die Protokolle eingetragen werden musste. Anwesende Parteienvertreter*innen beteiligten sich unerlaubt am Auszählen. Es gab keine kohärente Interpretation von als ungültig anzusehenden Stimmzetteln. Während des Wahltages stellte sich in einzelnen Fällen heraus, dass Parteienvertreter*innen unter dem Deckmantel unabhängiger Beobachter*innen von teils fiktiven Nichtregierungsorganisationen eine falsche Identität angenommen hatten.

Die Überprüfung der Dokumente der Wähler*innen und die Abnahme ihrer Fingerabdrücke mit u.a. von Deutschland finanzierten Maschinen nahm zu viel Zeit in Anspruch. Viele Wähler*innen waren zudem vom komplizierten Wahlverfahren überfordert. So entstanden Staus vor und in den Wahllokalen. Und dann der Missbrauch des sogenannten begleiteten Wählen durch zweifelhafte „Begleiter“. Wenn man als OSZE-Wahlbeobachter*in Zeuge von Wahlfälschung oder -beeinflussung ist, gibt es nur eine Option: auf keinen Fall eingreifen, sondern im Beobachtungsformular das entsprechende Feld ankreuzen. So meldeten OSZE-Wahlbeobachter*innen unerlaubte Wahlbeeinflussungen aus sieben Prozent der besuchten Wahllokale – eine derart hohe Quote ist wahlentscheidend. Die OSZE sprach auch aus diesem Grund am Tag nach der Wahl von einem Mangel an Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wahlen an sich.

Kurz vor Eröffnung des Wahllokals: Der Leiter des Wahlvorstandes zeigt den Wahlbeobachter*innen, dass die Wahlurne leer ist und versiegelt ist. Bild: Sebastian Gräfe

Technik im Wahllokal sollte dem Betrug vorbeugen. Während in vielen post-sowjetischen Ländern die politische Opposition in der Einführung von Technik, etwa Überwachungskameras, Computer zur Ausweisverifizierung und Abnahme von Fingerabdrücken, die Chance sieht, Wahlbetrug aufzudecken oder zu minimieren, wird in zahlreichen westeuropäischen Ländern der Einsatz von mehr Technik aufgrund von datenschutzrechtlichen Bedenken oder der Möglichkeit der externen Manipulierung abgelehnt.

Eine Straße in Armeniens Hauptstadt Jerewan. Bild: (Flickr) Stephen Downes.

Zwar ist das Bestreben der armenischen Opposition nach mehr Transparenz durch Technik nachvollziehbar. Wenn die Haupthindernisse für freie und faire Wahlen aber in der politischen Kultur des Landes bestehen, geprägt von Korruption und beschränktem Zugang zu Medien, ist die Wirkung westlicher technischer Hilfe begrenzt. Daher muss die armenische Gesellschaft den steinigen Prozess hin zu einer demokratischeren Gesellschaft vorantreiben. Der Opposition hilft dabei die kritische Erklärung der OSZE, mehr Reformen einzufordern. Gleichzeitig gibt es viel Raum für Verbesserung für die EU und die deutsche Bundesregierung, den Kaukasus nicht erst wieder bei der nächsten Krise wahrzunehmen.